Der Merkurstab | März/April 2021 | 16,00 Euro (inkl. Mwst., zzgl. Versandkosten)
Artikel | Impffragen im Zusammenhang mit
COVID-19: Gegenwärtiger Status
und Vorschlag einer Registerstudie
zur Überwindung sozialer Polarisierungstendenzen und Beantwortung
offener Forschungsfragen COVID-19 vaccination – a synthesis review of current status and proposal of a registry study to overcome social polarization tendencies and answer open research questions |
Autoren | Georg Soldner, David Martin |
Seiten | 104-117 |
Volume | 74 |
Zusammenfassung
Für die Überwindung der COVID-19-Pandemie ist
die Impffrage von wesentlicher Bedeutung. Es ist als
außergewöhnliche Leistung zu würdigen, dass es gelungen ist, in sehr kurzer Zeit eine beeindruckende
Vielfalt von COVID-19-Impfstoffen zu entwickeln. Die
folgende Darstellung geht detaillierter auf die innovativen mRNA- und Vektorimpfstoffe ein. Dabei wird
auch die Veränderung der Impfpraxis durch Einrichtung von Impfzentren diskutiert. Für eine Impfempfehlung im Kindesalter besteht derzeit keine Grund -
lage. Inwieweit die aktuellen Impfstoffe zu einer
Unterbrechung der Virustransmission durch sogenannte „Herdenimmunität“ beitragen können, ist
offen. Gleiches gilt für Umfang und Dauer des Impfschutzes in den verschiedenen Altersgruppen, für die
effektive Verhinderung schwer und tödlich verlaufender COVID-19-Erkrankungen und für seltene und sehr
seltene schwerwiegende Nebenwirkungen. Schließlich ist es derzeit noch nicht möglich, die verschiedenen Impfstoffe und Impfstofftypen hinsichtlich Wirksamkeit und Risiken vergleichend zu bewerten. Das
gilt auch, falls die Zweitimpfung eines Impfstoffs in
unterschiedlichen Zeitabständen zur Erstimpfung
erfolgt. Der entscheidende Beobachtungszeitraum
für seltene, schwerwiegende oder erst in einer längeren Nachbeobachtungszeit sich manifestierende
Nebenwirkungen ist derjenige, in dem ein Impfstoff
erstmals breit in einer Bevölkerung eingesetzt wird –
und gleichzeitig eine ausreichende Anzahl von Menschen nicht oder noch nicht geimpft worden sind, die
biologisch und soziologisch mit den Geimpften hinreichend vergleichbare Eigenschaften aufweisen. Eine
indirekte Impfpflicht oder berufsgruppenbezogene
Impfpflicht für medizinisches Personal werden auf
diesem Hintergrund diskutiert. Ein zentrales Impf -
r egister mit zuverlässiger Pseudonymisierung bei
indi vidueller Impfentscheidung der Bürger ohne
offene oder versteckte Diskriminierung könnte
sowohl hinsichtlich der sozialen Integration unterschiedlich optierender Bürger wie hinsichtlich einer
Optimierung wissenschaftlicher Evidenzgewinnung
eine solide Grundlage bieten.
Abstract
Clinical and epidemiological management of the
COVID-19 pandemic requires a comprehensive assessment of the vaccination issue. The development of
such an impressive variety of COVID-19 vaccines in a
very short time can be considered an extraordinary
achievement. The following synthesis review outlines
the innovative mRNA and vector vaccines and discusses their potential social and scientific implications.
The extent to which current vaccines may contribute
to interrupting viral transmission (“herd immunity”)
remains an open question. This is also the case when
evaluating the extent and duration of vaccine protection in different age groups, for the effective prevention
of severe and fatal COVID-19 disease, and for rare and
very rare serious adverse events. There is currently no
basis for recommending vaccination in childhood. Lastly, it is currently not possible to comparatively evaluate
the different vaccines and vaccine types in terms of
efficacy and risks. This is also true if the second dose
of a vaccine is given at different intervals from the first
dose. The crucial observation period for rare, serious
Der vorliegende Artikel wurde am 13.01.2021 zur Veröffentlichung im Merkurstab angenommen und bildet den Kenntnisstand
bis zu diesem Zeitpunkt ab. Eine fortlaufend aktualisierte Fassung findet sich unter www.anthromedics.org/PRA-0971-DE.Vorbemerkung und persönliche
Stellungnahme
Die Autoren hoffen, mit ihrem Vorschlag eines pseudonymisierten COVID-19-Impfregisters einen Beitrag zu
leisten gegen die Polarisierung, die zu entstehen droht,
wenn eine Gesellschaft verschiedene Positionen zu noch
offenen medizinischen Fragen nicht aktiv wertschätzt.
Eine nicht verurteilende, wissenschaftliche Begleitung
der Menschen mit ihren persönlichen COVID-19-Impfentscheidungen bietet zugleich die beste Chance, rasch
die noch offenen Fragen zu COVID-19-Impfungen glaubwürdig zu beantworten.
Impfgeschichte und Voraussetzungen
Was können wir aus der Geschichte des Impfens lernen – Das Beispiel Poliomyelitis
E
ine verträgliche, wirksame Schutzimpfung in einer
Pandemie ist grundsätzlich eine wünschenswerte
und effektive medizinische Präventionsmaßnahme. Das gilt auch, wenn prozentual nur wenige der Infizierten schwer betroffen sind wie bei COVID-19.1 Erinnert
sei hier an die Polio-Pandemie um die Mitte des 20. Jahrhunderts, die ebenfalls nur bei einem kleinen Teil der
Infizierten schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle
auslöste und deren Hauptrisikogruppe Kinder im Kindergarten- und frühen Schulalter waren.2 Eine PolioInfektion führt bei ca. 0,1 % der Infizierten zu einer paralytischen Polio und kann je nach Schwere bei 5–60 %
dieser schwer Betroffenen letal enden, also bei ca. 0,01 %
aller Infizierten (2). Bei den Überlebenden können leichte
bis sehr schwere Lähmungserscheinungen zurückbleiben und Jahrzehnte später ein Post-Polio-Syndrom auftreten. Alle Leser werden es wohl als großen Fortschritt
bezeichnen, in einem poliofreien Land leben zu können.
(An dieser Stelle möchten die Autoren des italienischen
Arztes und langjährigen Präsidenten der Internationalen Vereinigung Anthroposophischer Ärztegesellschaften (IVAA) Giancarlo Buccheri (3) gedenken, der seit der
Kindheit die Folgen einer paralytischen Poliomyelitis
mit sich trug. Er verstarb im April 2020 in Mailand an
COVID-19.)
Im Vergleich mit der Polio beleuchten wir damit einen
weiteren, für das Impfthema relevanten und oft diskutierten Aspekt der COVID-19-Pandemie, nämlich die
prozentual mäßige Morbidität und geringe Mortalität
bezogen auf die Gesamtzahl der Infektionen und Gesamtbevölkerung. So, wie COVID-19 erhebliche Sonderanstrengungen des Gesundheitswesens erfordert (insbesondere intensivmedizinisch), um schwer erkrankte
Patienten adäquat versorgen zu können, war das auch
während der Polio-Pandemie der Fall („eiserne Lunge“,
Sonderabteilungen, umfangreiche Reha-Programme bis
hin zur Versorgung von Post-Polio-Syndromen), bis die
Impfprogramme wirksam wurden.
Die orale Impfung gegen Polio (OPV) hat sich dabei
als sehr wirksames Instrument erwiesen, diese Pandemie zu beenden, weil sie nicht nur die Ansteckung,
sondern auch die Weitergabe des Virus durch Infizierte
verhindern kann. Gleichwohl ruft dieser Impfstoff bei
einem von 2,7 Millionen Geimpften eine paralytisch verlaufende „Impfpolio“ hervor, bei Menschen mit Immundefekt wesentlich häufiger. Diese extrem seltene,
schwerwiegende „Neben“-Wirkung des oralen Polioimpfstoffs mit abgeschwächten Lebendviren hat andererseits dazu geführt, dass er heute in poliofreien Ländern wie Deutschland als zu risikoreich angesehen und
durch einen „Totimpfstoff“ mit inaktiviertem Virus -
material ersetzt worden ist (IPV). Eine weltweite Eradikation der Poliomyelitis ist bis heute ebenso wenig gelungen wie auch bei den Masern. Dazu haben vor allem
politisch-religiös bedingte Schwierigkeiten in der Umsetzung einer global flächendeckenden Polio-Immunisierung beigetragen (Afghanistan, Pakistan). Hinzu
kommt, dass heute vom oral gegebenen Lebendimpfstoff abgeleitete, mutierte Polioviren (cVDPVs) in Afrika
zirkulieren, vgl. (4),3 (5). Wie schwierig globale Eliminationsprogramme zu realisieren sind, zeigt auch das Beispiel der Masernviren: 2019 erreichte die Zahl gemeldeter Infektionen die Höhe von 1996, mit einer weltweit
betrachteten Mortalität von mehr als 20 % (6). Diese
Beispiele deuten darauf hin, dass eine Elimination von
SARS-CoV-2 durch flächendeckende Impfung herausfordernd sein könnte, selbst wenn die Impfstoffe so effektiv
wie der Masernimpfstoff sein sollten.
In Bezug auf die Impfstoffsicherheit erhellt das Beispiel Impfpolio bei OPV, dass Studien mit ca. 30.000 bis
40.000 Beteiligten, wie sie jetzt den Zulassungsbehörden in den USA, dem Vereinigten Königreich und der
S o l d n e r · M a r t i n | I m p f f r a g e n i m Z u s a m m e n h a n g m i t C O V I D-1 9 105
Anmerkungen
Sämtliche Anmerkungen finden sich am Ende
des Artikels.
adverse events or those that manifest themselves only
in a longer follow-up period is the one in which a vaccine is used broadly in a population for the first time –
and at the same time a sufficient number of people
have not or not yet been vaccinated who have sufficiently comparable biological and sociological characteristics to those vaccinated. Indirect compulsory vaccination or compulsory vaccination of medical personnel
for specific occupational groups are discussed against
this background. A centralized immunization registry
with reliable pseudonymization of individual vaccination decisions without overt or covert discrimination
could provide a solid basis for the social integration of
citizens with different vaccination choices and for the
optimization of scientific evidence generation.